Herlinde Koelbl und „Das deutsche Wohnzimmer“ im Wandel der Zeit

1980 suchte die Fotografin Herlinde Koelbl „Das Deutsche Wohnzimmer“ und fand genormte Sitzgruppen. Und heute? Ein optimistischer Blick aus drei Perspektiven.
Herlinde Koelbl das Deutsche Wohnzimmer Oona HorxStrathern Stephanie Thatenhorst
Herlinde Koelbl

Herlinde Koelbl, Oona Horx-Strathern und Stephanie Thatenhorst im Interview mit AD.

Ausnahmsweise selbst im Fokus: Die Fotokünstlerin Herlinde Koelbl (Mitte) luden wir zum Gespräch mit Trendforscherin Oona Horx-Strathern (li.) und Interiordesignerin Stephanie Thatenhorst (re.) in deren Münchner Showroom ein.

Sima Dehgani

Frau Koelbl, Sie haben 1980 „Das Deutsche Wohnzimmer“ veröffentlicht. Wenn man das Buch in die Hand nimmt, merkt man schnell, dass das nicht einfach ein Interior-Bildband ist zum gepflegten Blättern…

Herlinde Koelbl: So etwas würde ich auch nie machen!

Aber was ist es dann? Was war Ihr Konzept?

HK: Das Buch gibt einen Aufschluss über die deutsche Gesellschaft Ende der Siebzigerjahre. Ich fand es faszinierend, wie Menschen sich in ihrem Wohnzimmer zeigen, denn es ist der Raum, mit dem sich jeder nach außen präsentiert. Es ist sozusagen der eigene Showroom.

Das “deutsche Wohnzimmer” von Herlinde Koelbl.

Sima Dehgani

Für Sie stand damals also sowohl der Raum im Mittelpunkt als auch die Menschen und was sie daraus machen?

HK: Absolut. Die Räume sind ein Spiegel der Menschen. Die Farbe, die Bilder an den Wänden … Gibt es einen Bücherschrank oder nur die Schrankwand? Und man spürt, ob sich jemand wohlfühlt im Raum, ob es sein Territorium ist. Deshalb sollten die Menschen sich selbst zeigen, ich wollte sie nicht dirigieren wie ein Regisseur seine Schauspieler. Ich habe ihnen gesagt: „Machen Sie, was Sie wollen! Sie können sich setzen oder stehen, nur nicht ganz in der Ecke, dann sind Sie zu klein.“ Und dann wollte ich noch wissen: Wie denken diese Menschen? Wie leben sie, was ist ihre Lebensphilosophie? Deshalb habe ich Zitate dazugesetzt. Ich habe also auf drei Ebenen gearbeitet, um eine richtig große Geschichte zu erzählen.

Herlinde Koelbl Fotografin: „Spuren der Macht“ ist vielleicht ihr bekanntestes Werk. Doch Herlinde Koelbl ist in ihrer langen Karriere nicht nur Politikern sehr nahegekommen. Für „Das Deutsche Wohnzimmer“, eine ihrer ersten Publikationen, besuchte sie Ende der 70er-Jahre Bau­ernfami­lien, Studienräte und Künstler zu Hause. Sie gibt den Menschen mindestens so viel Raum wie dem Raum – und zeigt so sehr persönlich, wie in diesem Land gewohnt und gelebt wurde.  herlindekoelbl.de

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Hatten Sie denn das Gefühl, die Leute waren wirklich stolz auf ihre Wohnzimmer und haben sie gern gezeigt?

HK: Ja, hatte ich absolut! Man wollte gern den Nachbarn und allen anderen zeigen, was man geschaffen hat; dass man so wohnt, dass man sich das leisten kann.

In Ihrem Nachwort schreiben Sie allerdings: „Zum Wohnen im Sinne von Leben und Lebendigsein sind Wohnzimmer offenbar nicht da.“

HK: Vielleicht können Sie sich noch erinnern, in vielen Zeitungen gab es Beilagen von Möbelhäusern, und die waren immer gleich: Schrankwand – zwei SesselCouchCouchtisch. Dieses System wurde in vielfacher Weise täglich serviert. Und die Gesellschaft war früher, auch noch in den Achtzigern, viel genormter. Das hat sich verändert, alles ist individualistischer geworden, auch das Wohnen. Wobei man dafür heutzutage an bestimmten Möbeln oder Lampen sieht, was en vogue ist. So wird auf andere Art vorgegeben, was „man“ haben sollte.

Das Thema hat Sie also offenbar seit damals nicht mehr losgelassen?

HK: Das Thema verfolge ich immer weiter, weil es etwas Elementares ist. Und da ich meistens, wenn ich Menschen fotografiere, zu ihnen gehe und bewusst nicht ins Studio, sehe ich auch jetzt noch viele Wohnzimmer.

Frau Thatenhorst, wenn Sie sich das Buch ansehen, wirkt es auf Sie wie ein Fenster in eine ferne Welt oder sind wir noch nahe dran?

Stephanie Thatenhorst: Dadurch dass die Räume schwarz-weiß fotografiert sind, hat man den Eindruck, das sei weit weg. Aber es ist verblüffend, dass man manche dieser Dinge jetzt wieder zum Einsatz bringt, zum Beispiel Stofftape­ten. Wir versuchen das Rad neu zu erfinden, dabei nehmen wir eigentlich nur alte Designs und Schemata wieder auf und setzen sie in einen anderen Kontext.

Stephanie Thatenhorst Interiordesignerin: Nach dem Architekturstudium verpasste sie erst mal Bars und Restaurants, die sie mit ihrem Mann betreibt, eine Portion Farbe und Glamour. Inzwischen richtet sie auch Pri­vat­wohnungen ein und holt in ihren Münch­ner Showroom Design von Labeln wie Dimoremilano.  stephanie-thatenhorst.com

Sima Dehgani

Stephanie Thatenhorst

Als Interiordesignerin haben Sie eine Rolle, die damals noch unüblich war in Deutschland. Ihre Kunden spiegeln sich nicht mehr direkt in ihren Wohnzimmern, sondern vermittelt über Sie. Wie funktioniert das?

ST: Man lernt die Bauherrn kennen, man verbringt Zeit mit ihnen, man redet mit ihnen, und damit beginnt ein Prozess, in dem der Entwurf entsteht – und man sich automatisch nebenbei noch besser kennenlernt.

Steht bei Ihren Interiorkonzepten auch heute noch das Wohnzimmer als „Showroom“ besonders im Mittelpunkt?

ST: Der Fokus hat sich geweitet: Meistens geht es um die komplette Wohnung. Wir legen auch viel Augenmerk auf Bereiche wie die Gästetoilette oder den Flur, die dazu beitragen, dass man sich insgesamt in seinem Zuhause wohlfühlt. Dazu kommt, dass es ja damals diese offenen Wohnformen noch nicht gab. Heute ist das Wohnzimmer zwar immer noch wichtig, aber es findet auch viel in der Küche, im Essbereich und überall dazwischen statt.

HK: Das ist ein interessanter Punkt. Früher gab es ja die gute Stube, in die man nur ging, wenn Besuch da war, und es gab das normale Wohnzimmer. Und die Armen hatten nur die Wohnküche. Aber inzwischen haben genau das die Gutverdienenden. Man investiert in die Küche Beträge wie für ein Auto oder noch mehr. Auch sie ist zu einem Showroom geworden.

Oona Horx-Strathern: In vielen deutschen Wohnungen gibt es übrigens inzwischen quasi ein zweites Wohnzimmer: das Bad. Durch den Trend zu Gesundheit und Wellness hat es sich zu einem Salon entwickelt, es ist viel wohnlicher geworden, mit Teppichen, Stoff an der Wand, Holzböden – und Pflanzen.

Oona Horx-Strathern Trendforscherin: Die gebürtige Dublinerin gründete 1998 mit ihrem Mann Matthias Horx das Zukunfts­institut. Sie berät Unternehmen und beschäftigt sich in Vorträgen, Büchern und Podcasts mit der Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft. In ihrem „Home Report“ fasst sie jedes Jahr die wichtigsten Wohntrends zusammen. zukunftsinstitut.de

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ST: Überhaupt ist die ganze Wohnwelt viel individueller geworden. Es gibt so viele Möglichkeiten und so viele unterschiedliche Bedürfnisse: Manche Menschen möchten keinen Fernseher mehr, anderen ist er nach wie vor wahnsinnig wichtig. Manche haben gar keine Bücher mehr – der digitale Fortschritt macht sich auch in der Ausstattung des Wohnzimmers bemerkbar. Aber richtig ist auch: Wir haben noch kein Wohnzimmer gemacht, in dem kein Sofa steht!

Mir kommt es so vor, als ob das Sofa in den letzten Jahren sogar immer zentraler geworden ist. Nehmen Sie das auch so wahr?

ST: Ja, tatsächlich höre ich bei neun von zehn Kunden den Satz: „Das Sofa muss sehr gemütlich sein! Ich muss darin versinken können.“ Das ist nicht ganz neu, hat sich aber während der Pandemie noch verstärkt.

Was ist eigentlich aus der Schrankwand geworden?

ST: Stauraum ist natürlich nach wie vor ein großes Thema. Aber die Schrankwand von damals war ja teilweise offen; man konnte Dinge zur Schau stellen. Mittlerweile wird viel mehr hinter Türen verstaut.

HK: Mein Sohn ist Schreinermeister und macht viele Einbauten, sehr elegante Schrankwände sozusagen, die von einer Mauer zur anderen durchgehen. Die haben auch keine Griffe mehr, das sieht fast aus wie eine Wand.

OHS: Es wird architektonisch eingeblendet. Das ist ein starker Trend.

Frau Horx-Strathern, als Trendforscherin bringen Sie noch mal einen 
anderen Blick mit. Wie war es für Sie, in diesem Buch zu blättern?

OHS: Mir kam es vor, als ob das alles 60 Jahre her wäre und nicht erst 40! Solche Wohnzimmer sind eigentlich am Verschwinden. Es zählt nicht mehr so der Status nach außen, sondern der Status nach innen. Soziodemografisch betrach­tet, hat die veränderte Rolle der Frau die steife Trennung zwischen Küche und Wohn­zimmer aufgelöst. Frauen arbeiten mehr, das hat Einfluss darauf, wie man Grundrisse macht. Wir haben auch ganz andere Familienverhältnisse, es gibt viele Patch­work-Familien, alles ist diverser. Und die Single-Haushalte haben stark zugenommen.

Es gibt auch kaum noch verbindliche Rituale wie damals, als man 
heiratete und sich dann eine Einrichtung anschaffte. Man hat kürzere Beziehungen, geht wieder auseinander, teilt die Möbel irgendwie auf …

OHS: Genau! Man hat früher ein Drei-Phasen-Leben gehabt: Kindheit, Erwachsensein, Rente; heute sind es sechs Phasen: Kindheit, Adoleszenz, eine „Rushhour“ um die 30, dann eine Selfness-Phase, in der man dann zu sich kommt, und schließlich die Unruhe-Phase, wie wir es nennen. Früher hatte man eine Wohnung fürs Leben! Heute zieht man öfter um, man braucht Möbel, die man mitnehmen kann. In der Gesellschaft ist viel mehr Bewegung, und viel mehr Toleranz natürlich auch.

HK: Trotzdem würde ich sagen, die Einrichtung ist noch immer wichtig – vielleicht nicht mehr so sehr, um zu zeigen, was ich mir leisten kann, sondern eher, was ich bin, wer ich bin. Ich bin Individualist, ich bin ein ganz toller Mensch!

OHS: Aber auch diese Individualität folgt einem Trend. Der Trend ist immer da. Er ist nur jetzt ein anderer als damals.

HK: Eine Sache fällt mir immer wieder auf: Heute wird viel Wert auf modernes, anspruchsvolles Design gelegt, aber früher waren oft noch ein, zwei antike Möbel daruntergemischt. Heute sind diese Erbstücke meist verschwunden.

OHS: Das kommt aber wieder zurück durch das Bewusstsein für Sustainability. Der große Trend zu skandinavischen Midcentury-Möbeln hat auch damit zu tun.

Ja, Vintage-Funde sieht man oft, echte Antiquitäten aber nur noch selten.

ST: Das stimmt. Andererseits wünschen sich Kunden oft, dass solche Dinge mit einfließen in ein Interiorkonzept. Dass wir nicht alles neu, neu, neu machen, sondern dass auch Erbstücke oder Sachen, die sie vielleicht schon aussortieren wollten, dabei sind. Ich höre ganz oft den Satz: „Aber wir wollen dann nachher nicht im Showroom wohnen!“ Der Kunde will das Perfekte gar nicht haben.

Es ist ja schon ein paarmal angeklungen: In letzter Zeit war unser Leben stark beeinflusst von der Coronapandemie. Wie hat sich dadurch das Wohnen verändert?

OHS: Corona hat viele Trends beschleunigt, die schon da waren. Nicht nur die Küche ist mehr in den Fokus gerückt, sondern das Zuhause wurde allgemein aufgewertet. Die Wohnung war ja für viele wie ein vernachlässigtes Familienmitglied. Man kam von der Arbeit und hatte nie Zeit, sie neu einzurichten oder zu streichen.

HK: Es fallen einem Dinge auf, die man vorher nie bemerkt hat, weil man sie nicht benutzt hat. Und man braucht auch andere Dinge als vorher.

OHS: Zum Beispiel ein Homeoffice. Ich nenne es immer „Hoffice“, das ist kürzer und mir gefällt der Anklang an „Hoffnung“ – zu Hause zu arbeiten tut natürlich nicht jedem gut, aber für viele bedeutet es eine gewisse Freiheit. Damit einher geht auch der Trend weg vom Open Plan Living: Man muss Wohnen und Arbeiten physisch und mental irgendwie trennen. Und dafür brauchen wir in Zukunft andere Grundrisse, wir brauchen auch mehr modulare, vielseitige Möbel – eine Flexibilität, die man übrigens auch schon in der Bauhaus-Zeit gesucht hat.

Und was heißt das fürs Wohnzimmer? Wenn man zu Hause so viel Verschiedenes tun muss, ist es dann Luxus, einen Raum nur zum Wohnen zu ha­ben?

ST: Das sehe ich eigentlich nicht so, denn tatsächlich hat uns doch Corona auch gezeigt, was wir dort alles machen können! Der Sessel wurde einfach beiseite geschoben, damit wir auf der Matte turnen konnten. Oder das Thema Home­schooling: Nicht jede Familie hat drei voll ausgestattete Schreibtische für die Kinder – also wird halt der Küchentisch umfunktioniert. Corona hat uns gelehrt, die Räume flexibler zu nutzen. Man hat ihnen viel mehr abverlangen müssen als vorher, und wundersamerweise hat es ziemlich gut funktioniert.

Produktion: Thomas Skroch

Pieter Jan Mattan Home

Hinter dem Bild: Unsere Redakteurin verbringt zu viel Zeit auf Instagram und untersucht hier künftig wöchentlich Bilder von Wohnungen, die dort viral gehen. Erste Folge: Pieter Jan Mattans New Yorker Loft.

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Ein Ferienhaus fernab der Heimat – ein Traum für viele Familien. In Buenos Aires baute das Architekturbüro Besonías Almeida einer Familie den ersehnten Rückzugsort. Allerdings nicht an einem Ferienort, sondern im Garten der Hausherren.